Medica 2023

•••6••• Innovationen Handprothesen mit Ultraschallsensoren Fraunhofer IBMT im EU-Verbundprojekt SOMA Menschen, die beispielsweise infolge eines Unfalls eine Hand verloren haben, könnten damit einzelne Finger der Prothese noch besser ansteuern und noch präziser bewegen als dies bisher in der myoelektrischen Prothetik – so der Fachausdruck – möglich war. Die myoelektrische Prothetik arbeitet meist mit Elektroden auf der Haut, die die elektrischen Signale von Muskelkontraktionen aufnehmen und an ein Elektronikmodul weiterleiten, das wiederum die Prothese ansteuert. Die Wissenschaftler des FraunhoferInstituts für Biomedizinische Technik IBMT, imsaarländischenSulzbachsetzen im Projekt „SOMA“ (Ultrasound peripheral interface and in-vitromodel of human somatosensory system andmuscles formotor decoding and restoration of somatic sensations in amputees) auf einen neuen Ansatz. Sie nutzen Ultraschallsensoren, die laufend Schallimpulse ins Muskelgewebe des Unterarms schicken. Anders als elektrische Impulse werden SchallwellenvomGewebe reflektiert. Die Laufzeiten der reflektierten Signale liefern Informationen über die räumliche Tiefe des Muskelstrangs, der die jeweilige Schallwelle zurückspielt. Auf dieseWeise lassen sich die durchNervenstimuli desGehirns ausgelösten Kontraktionen im Muskelgewebe sehr detailliert beobachten. Dieswiederumermöglicht dieErkennung typischer Aktivierungsmuster imMuskel, die für einebestimmteBewegung der Hand oder eines Fingers stehen. Das Projektziel ist, dass eine KI-gesteuerteSoftware ineiner kompaktenElektronikbox, dieder Patient oder die Patientin am Körper trägt, diese Erkennung übernimmt. Die Elektronik könnte die decodierten Signale als Befehl andieAktoren inder Handprothese senden und damit die Bewegungder Prothesen-Finger auslösen. Das Detektieren, Auswerten und Aussenden von Steuerbefehlen geschieht dabei inEchtzeit. Das grundlagenorientierte EUProjekt ist derzeit noch in der Laborphase. Ultraschallwandler und Elektronik erzeugen die Signale und lesen die zurückgespielten Schallwellen aus. Diese Daten werden dann an einen PCweitergegeben, in dem die KI die Analyse startet. Anschließend schickt die Elektronik die decodierten Signale als Befehl an die Aktoren in der Prothesenhand und löst damit die Fingerbewegungen aus. Die Vorteile der Technologie sind aber schon deutlich sichtbar. „Die Ultraschall-basierte Steuerung agiert wesentlich feinfühliger und präziser als dies mit Elektroden möglich wäre. Die Sensoren in der Lage, verschiedene Freiheitsgrade wie Beugen, Strecken oder Drehen zu erkennen“, sagt Dr. Marc Fournelle, am Fraunhofer IBMT zuständig für die Leitung der Gruppe „Sensoren & Aktoren“ und im Projekt für die Entwicklung der SOMA-Ultraschallsensorik. Die Sensoren sind in ein Armband integriert, das später im Schaft der Handprothese sitzen könnte. Für die korrekte Verknüpfung der Muskelsignalemit dementsprechenden Finger und der gewünschten Bewegung muss der Mensch ein kurzes Training absolvieren, bei dem er versucht, Teile der Hand und Finger zu bewegen. Die daraus generierten Aktivitätsmuster werden als Referenz im System hinterlegt. Daraus lässt sich die Verknüpfung mit dem entsprechenden Finger oder Teil der Hand und der gewünschten Bewegung herstellen. Das Training dauert nur wenigeMinuten. Andreas Schneider-Ickert, Projektleiter Aktive Implantate und Innovationsmanager am Fraunhofer IBMT sagt: „Versuche mit Probanden haben gezeigt, dass die Technologie funktioniert. Sie ist sehr bedienfreundlich und nicht invasiv. Wir arbeiten jetzt daran, das Systemnoch unauffälliger zumachen.“ Projektpartner aus 5 Ländern Realisiert wurde die Technologie gemeinsam mit Projektpartnern. Im SOMA-Konsortium arbeiten insgesamt 7 Partner aus 5 Ländern zusammen. Die IBMT-Experten bringen ihre jahrzehntelange Erfahrung in der Entwicklung von Sensoren und im Bereichen wie Neuroprothetik und Implantaten ein. Das Team hat die speziell angepassten Ultraschallwandler und die Elektronikbox entwickelt. Das Imperial College of Science Technology and Medicine in Londonhat in Zusammenarbeit mit den Fraunhofer-Forscher die KI-Verfahren zur Erkennung von Bewegungsmustern entwickelt und erste Versuche an Probanden durchgeführt. „Außerdem kooperieren wir seit mehreren Jahren sehr eng mit der Università Campus Bio-Medico di Roma (UCBM), die das Gesamtprojekt SOMA koordiniert undmit der Idee für die Sensorik auf uns zugekommen ist“, erklärt Schneider-Ickert. Die Arbeit an SOMA geht nach dem Proof-of-Concept und den positiven Rückmeldungen der Probanden weiter. Im nächsten Schritt wollen die Forscher die zeitliche Auflösung der Sensorik noch weiter steigern und die Elektronik verkleinern, um eine noch komfortablere und noch präzisere Steuerung der Prothese zu realisieren. Das Sensorarmband wird unsichtbar in der Manschette der Handprothese verschwinden. Im Sinne der verbesserten Alltagstauglichkeit ist es auch denkbar, dass die KI und die Steuersoftware in Zukunft in ein Smartphone integriert sind. Die Signale würden beispielsweise nach dem Auslesen durch die Elektronikbox via Bluetooth zum Smartphone und zurück übertragen werden. Sensorische Rückmeldung aus der Handprothese Außerdem arbeitet das Konsortium daran, das System bidirektional zu machen. Die Handprothese soll nicht nur Befehle ausführen, sondern auch Rückmeldung geben, die der Träger der Prothese als sensorischen Reiz spürt und darauf reagieren kann. „Wenn einMenschmit einer gesunden Hand ein GlasWasser festhält und zumMund hebt, erhält er von den Fingern laufend Rückmeldung, wie fest er das Glas halten muss, so dass es einerseits nicht aus der Hand rutscht, andererseits aber auch nicht durch zu festes Drücken zerbricht. Eine solche Funktionalität wird auch in SOMA untersucht und soll in künftige Handprothesen integriert werden“, erklärt Schneider-Ickert. Die Rückmeldung könnte aber statt über Ultraschallsensoren über Elektroden erfolgen, die in bzw. an Nerven implantiert werden. Dort leiten sie die Signale, die von der Prothese geschickt wurden, mittels gezielter Nervenstimulation ans Gehirn als sensorischen Reiz weiter. Auf diesemWeg bekommt das menschliche Gehirn Rückmeldung von der künstlichen Hand und kann Befehle zurücksenden, die beispielsweise den Druck der Finger verstärken oder senken. Die ins Nervengewebe implantierte Elektrode aus biologisch verträglichemMaterial spürt der Mensch nicht. „Auf diese Weise entsteht ein geschlossener Regelkreis, in dem die Handprothese und das Gehirn laufend und in Echtzeit miteinander kommunizieren“, erklärt Fournelle. Das Fraunhofer IBMT hat die entsprechende Technologie und die Elektroden bereits entwickelt und erprobt. Akzeptanz und Usability In allen Projektphasen sind Usability und Akzeptanz der Nutzer der entscheidende Faktor. Das SOMA-Team hat in jeder Phase des Projekts Rückmeldung von Versuchspersonen eingeholt. In der aktuellen Projektphase sind dies noch Probanden ohne Amputation. „Das Feedback der Versuchspersonen hilft uns, die innovative Handprothese weiter zu optimieren. Menschen, die eine Hand verloren haben, haben oftmals eine lange Leidenszeit hinter sich. Eine funktionierende Handprothese ist eine enorme Erleichterung im Alltag und gibt ihnen auch ein Stück Lebensqualität wieder zurück“, erklärt Schneider-Ickert. Durch die Entwicklung der innovativen Handprothese erhält auch der Markt für myoelektrische Prothesen einen spürbaren Schub. Weltweit leiden schätzungsweise 3 Millionen Menschen unter einer Arm- oder Handamputation, wobei die Anzahl weiter zunimmt. Diese Menschen sollen von der Verbesserung der myoelektrischen Prothese im Hinblick auf Funktionalität und Komfort profitieren. Paralleler Fertigungsprozess für die Sensoren (links) sowie finaler Ultraschallwandler nach der Integration ins Gehäuse (rechts) Foto: Fraunhofer IBMT Sensorarmband: Demonstrator eines Sensorarmbands, mit dem an Probanden Messungen zur Handbewegungserkennung durchgeführt wurden Foto: Fraunhofer IBMT Fortsetzung von Seite 1

RkJQdWJsaXNoZXIy NjM5MzU=