LogiMAT 2017

•••3••• Interview Gesamte Fertigung muss hoch variabel sein DIEMESSE im Gespräch mit Felix Müller, Fachthemenleiter am Fraunhofer IPA in Stuttgart Herr Müller, der Trend zur Indi- vidualisierung stellt die Produk- tionsplanung vor ganz neue Her- ausforderungen. Was gilt es heute zu meistern? Kunden fordern zunehmend in- dividualisierte Produkte, somit sinken die Losgrößen bei stei- gender Variantenanzahl. Deshalb gilt es für Unternehmen, Produk- tionssysteme einzusetzen, die in kürzester Zeit eine Vielzahl an Va- rianten herstellen können. Hier- für muss die gesamte Fertigung hoch variabel gestaltet sein und sich selbst neu konfigurieren. Un- ternehmen müssen diese Varianz bereits bei der Planung ihrer Pro- duktionssysteme bedenken und über die gesamte Laufzeit effizi- ent betreiben. Mit den Planungs- richtlinien des Fraunhofer IPA für intelligente Produktionssysteme werden schon in der Konzeptpha- se spätere Selbstanalyse- und au- tonome Optimierungsfähigkeiten berücksichtigt. Das Fraunhofer IPA bietet gemeinsame Planungs- workshops an und kann beson- ders im Bereich Automobil-, Kon- sumgüter- und Pharmaindustrie viele Referenzen nachweisen. Zu den wichtigsten Methoden der zukunftsfähigen Produktionspla- nung gehört der sogenannte „di- gitale Schatten der Produktion“. Was verstehen Sie darunter? Es handelt sich dabei um eine wei- terentwickelte Stufe der digitalen Fabrik. Wohingegen diese nur die Stamm- und Planungsdaten sowie historische Daten der Produktion vereint, befüllt der digitale Schat- ten der Produktion dieses Abbild mit echtzeitnahen Daten. Man hat also nicht nur allgemeine Daten zur Fertigung, sondern weiß, was dort in diesem Moment passiert. Unternehmen kön- nen einen digitalen Schatten ihrer Produktion erzeugen, indem sie alle relevanten Produktionsressourcen ver- netzen und die Daten der Objekte einspeisen. Für den Mittelstand empfiehlt es sich, zunächst einen kleine- ren Bereich ihrer Fabrik mit einem digitalen Schatten der Produktion zu erschlie- ßen und damit Erfahrungen zu sammeln. Logistik muss flexibler werden, da- von sind Sie fest überzeugt. Wel- che Rolle spielen hierbei „Fahrer- lose Transportfahrzeuge“ (FTF)? Wie eingangs gesagt, müssen heutige Produktionssysteme ei- ne hohe Produktvarianz – bis zur individuellen Produktion in Stück- zahl eins – abdecken. Das setzt eine hoch flexible Intralogistik voraus. Die zuständigen Kompo- nenten sollten also in der Lage sein, ihre Transportwege flexibel an den Produktionsfluss der ak- tuellen Variante anzupassen. Hier kommen FTF ins Spiel. Mit der An- bindung an einen übergeordne- ten Navigationsdienst sind sie in der Lage, sich selbstständig an die Rekonfiguration anzupassen. Bei ihrer Einbindung ist es allerdings wichtig, dass Routenplanung, Na- vigation und Ressourcenplanung vollkommen autonom vonstatten- gehen. Andernfalls wäre der kon- tinuierliche Planungsaufwand für das Unternehmen unermesslich. Das Fraunhofer IPA hat bereits neuartige Konzepte für Fahrerlose Transportsysteme entwickelt und erprobt, zum Beispiel im Projekt Arena2036. Mit „Cloud Naviga- tion“ ist in unserem Applikations- zentrum Industrie 4.0 zudem ein Demonstrator aufgebaut, der die gemeinsam geteilte Karte aller FTF veranschaulicht. Neben der sensorbasierten Umge- bungserkennung ist die Anbindung an die Cloud eine wichtige Voraus- setzung für fahrerlose Transport- fahrzeuge. Birgt dies – etwa mit Blick auf denkbare Hackerangriffe – nicht auch handfeste Gefahren für die Produktion von morgen? IT-Sicherheit ist natürlich ein Rie- senthema. Prinzipiell könnte jede Schnittstelle zur Cloud eine Einflugschneise für Hacker- angriffe sein. Es ist daher wichtig, das Thema bereits im Prototypenstatus zu be- denken – selbst, wenn noch keine Anbindung des lokal betriebenen Pilotprojekts an die IT-Infrastruktur des Unternehmens vorliegt. Consumer Electronics wie der RaspberryPi und zuge- hörige Opensource-Soft- wareprojekte bieten nahezu grenzenlose Möglichkeiten, unkompliziert in die Inter- net-der-Dinge-Welt (IoT) einzusteigen. Das ist sinn- voll, um sich an das Thema heranzutasten, gewährleis- tet aber nicht immer volle IT-Sicherheit. Für alle Projekte, die über lokal betriebene Prototypen hinausgehen, rate ich, eine kom- merzielle Plattform mit dazuge- hörigem Support zu verwenden oder einen Spezialisten zu beauf- tragen. Die am IPA entwickelte Cloud-Plattform Virtual Fort Knox bietet zum Beispiel mit dem Si- cherheitskonzept der Segmen- tierung des Netzwerks zur Kap- selung der Geräte sowie durch den Einsatz eines umfangreichen Firewall-Konzepts ein Höchstmaß an Schutz. Die Planung und Steuerung der Produktion gelingt heute ganz zeitgemäß per App, ebenso wie die Optimierung. Beispiele sind das System „Sense&Act“oder die „Smarte Systemanalyse und -op- timierung“ aus Ihrem Hause. Was leisten diese Entwicklungen? Mit Sense&Act können Unterneh- men über Drag & Drop Regeln für ihre Produktion festlegen. Auf ei- ne Aktion wird automatisiert eine Reaktion ausgelöst. Als Auslöser kann der Nutzer sowohl physi- sche Sensoren wie die Tempera- tur einer Prozesskammer als auch virtuelle Sensoren wie verbuch- te Auftragseingänge angeben. Da das System ohne große IT-In- frastruktur im Hintergrund und auf einem lokal gestellten Server läuft, eignet es sich besonders für den Einstieg in die vernetzte Produktion. Die Smarte System- analyse und -optimierung ist wie- derum hilfreich, um Störungen in verketteten Produktionssystemen zu erkennen und ihre Ursachen zu beseitigen. Das mobile Werk- zeug ist mit intelligenten Kameras ausgestattet, die die Daten der einzelnen Stationen echtzeitnah erheben und automatisiert aus- werten. In der Industrie haben wir das Tool schon angewendet, kürz- lich zum Beispiel bei der SCHOTT Schweiz AG in der Pharmaproduk- tion, wo wir eine Effizienzsteige- rung in der Größenordnung von zehn Prozent erzielt haben. Am 16. März veranstaltet Fraunho- fer IPA auf der LogiMAT das Forum „Die selbststeuernde Produktion“. Was darf das Fachpublikum hier erwarten? Auf dem Forum finden drei Fachvorträge mit Diskussionen statt. Wir stellen Industrie-4.0- Techniken und Konzepte vor und demonstrieren, wie sich mit „Automation Assessment“ Kos- teneinsparungen erzielen lassen. Des Weiteren präsentieren wir Anwendungen, die die Produkti- vität in verketteten Anlagen stei- gern. Unternehmen erfahren, wie sie Potenziale identifizieren, die wirtschaftlich und technisch Sinn ergeben. Außerhalb des Forums haben sie im Applikationszentrum Industrie 4.0 bei uns in Stuttgart jederzeit die Möglichkeit, die De- monstrationen live zu erleben und mit uns als Experten eigene An- wendungsfelder zu erschließen. Da die Kunden heute zuneh- mend individualisierte Produk- te fordern, müssen Unterneh- men extrem flexibel auf diese Wünsche reagieren können: In kürzester Zeit ist eine Vielzahl von Varianten in der Produk- tion herzustellen. „Hierfür muss die gesamte Fertigung hoch va- riabel gestaltet sein und sich selbst neu konfigurieren“, sagt Felix Müller, Fachthemenleiter am Fraunhofer IPA in Stuttgart. Wie dies gelingt, erläutert er im Gespräch mit DIEMESSE . Felix Müller, Fachthemenleiter Autonome Fertigungssystem- optimierung, Fraunhofer IPA Foto: Fraunhofer IPA „Digitaler Schatten“ Echtzeitnah und automatisiert Bei der „Smarten Systemanalyse und -optimierung“ zeichnen Kameras die relevanten Pro- zessmerkmale in verketteten Anlagen auf. Auf dieser Basis ermittelt die Anwendung die wichtigsten Fehlerquellen und zeigt deren Ursachen auf. Foto: Universität Stuttgart IFF / Rainer Bez

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